Der Reisebericht aus dem Abschnitt Türkei
#27
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Donnerstag, 11.09.2008
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Orestiada - Soufli - Keşan (TR)
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114,1 km
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5:19 h
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av.
V = 21,4 km/h
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↗ 587 hm
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↘ 511 hm
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av. P = 100 W
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16°C - 34°C, sonnig, trocken und Gegenwind
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12 € &
24 YTL (neue Türk. Lira)
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Hinter dem griechischem Checkpoint kommt der
Grenzstreifen, der es an dieser Grenze aber mal in sich hat: gepanzerte
Fahrzeuge stehen bereit und türkische Soldaten mit schwerer Bewaffnung bewachen
ihr Heimatland. Einen Soldaten will ich etwas fragen, doch als ich mich ihm
nähere nimmt er nervös seine Maschinenpistole in Anschlag. Ich überleg es mir
anders und fahr einfach weiter ohne zu fragen. Der Grenzfluss Evros ist
ausgetrocknet, seit Wochen kann es hier nicht mehr geregnet haben. Nun erreichen
wir der türkische Checkpoint, der sich durch eine überdimensionale Türkei-Fahne
ankündigt. Drei Mal müssen wir an unterschiedlichen Punkten unsere Pässe
vorzeigen, bis wir abschließend alle Kontrollen durchlaufen haben und endlich
in der zivilen Türkei angekommen sind. Die letzte Grenze der Tour war
gleichzeitig ohne Zweifel, die am schärfsten bewachte.
Die nächsten 30 Kilometer bis Keşan, der ersten
größeren Stadt in der Türkei, führen durch eine Steppenlandschaft. Die
Trockenheit der letzten Zeit hat alles verdorren und vertrocknen lassen.
Schnurrgerade führt die Straße durch diese Ödnis. Angeblich soll in dieser
Gegend sogar Reis angebaut werden, doch dafür müsste es erst einmal einen ganzen
Monat lang regnen. In Keşan ankommend halten wir an einem Supermarkt,
welcher an der Kreuzung der Nord-Süd und der West-Ost-Europastraße liegt.
Einmal mehr habe ich Angst unsere Fahrräder zwar angeschlossen, aber
unbeaufsichtigt, hier auf einem solchen Parkplatz abzustellen. Der Supermarkt
ist riesig groß, beim Reinkommen muss man durch einen Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor,
genau wie am Flughafen, gehen und darf weder Waffen noch Fotoapparate bei sich
tragen. Also bleibt auch dieser am Fahrrad. Drinnen ist es angenehm kühl. Das
erste was wir hier und damit auch in der Türkei essen ist Döner. So ist endlich
auch ein Klischee eines Landes, welches man so in sich trägt, bestätigt worden.
Unsere Türkeikarte dieser Region, welche in Deutschland gar
nicht so einfach zu beschaffen war, verrät uns bei Keşan einen Zeltplatz
und dann erst einmal lange keinen mehr. Und da wir uns außerdem über den
weiteren Streckenverlauf nicht auf die schnelle einigen können, endet diese
Tagesetappe, obwohl erst Nachmittag ist, schon hier. Der Zeltplatz ist schnell
gefunden und ist ein Garten neben einer Gaststätte. Der kleine und schmächtige
Besitzer, auf dessen Auto ein Türkei- und ein Deutschlandaufkleber haften, lädt
und herzlich auf seinen winzigen Rasen ein, für den er nicht mal eine Gebühr
erhebt. Wir trinken zum Ausgleich in seiner Gaststätte zwei Bier, das typisch
türkische Efes hat er leider nicht im Angebot und so gibt’s dänisches Tuborg.
Gewaschen wird sich hinter einer Mauer und etwa fünf Minuten Fußmarsch durch
Disteln später im Stausee Kocadere Göleti.
Am Abend hören wir zum ersten Mal einen Imam der über
Lautsprecher aus einer Moschee Koranverse rezitiert. Seine Stimme wirkt
beruhigend und klingt wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht.
#28
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Freitag, 12.09.2008
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Keşan - Sarköy - Uçmakdere
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113,3 km
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6:16 h
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av.
V = 18,0 km/h
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↗ 971 hm
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↘ 1000 hm
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av. P = 80 W
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18°C - 36°C, sonnig, trocken, heiß
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n.V.
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Der neue Tag beginnt mit der Diskussion über den weiteren
Streckenverlauf, die Dinge liegen so: Von Keşan bis Istanbul sind
es auf der dicken Transitstraße 230 Kilometer, es ist die Direttissima. Die
Alternative geht nicht auf dem kürzesten Weg nach Osten, sondern erst einmal 40
Kilometer nach Süden zum Marmarameer. Von da dann immer an der Küste entlang
bis Tekirdağ, wo man unausweichlich wieder auf die grausige Transitstraße
kommt, welcher man hier bis Istanbul folgen muss. Insgesamt ein Umweg von etwa
45 Kilometern, also noch 275 Kilometer bis zum Ziel. Auf unserer Karte ist die kleine Küstenstraße
mit dem Zusatz versehen: “Picturesque Road“, wie ein Magnet zieht es mich daher
in Erwartung verschlafener Fischerdörfer, verträumter Naturstrände und einer
letzten Ruhe vor dem Sturm von Istanbul, zum Meer. Konrad, der immer mehr zum
Pragmatiker und Verfechter einer allein zielorientieren Handlungsweise wird, möchte
lieber den sprichwörtlichen Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.
Warum sollte man es sich schwerer machen, als es sowieso schon ist. 3000
Kilometer haben wir in den Beinen, zudem hat Konrad in den letzten Tagen nicht
nur gegen die Kilometer an sich, sondern auch gegen seine Durchfall-Erkrankung
angekämpft.
Wir können uns
bis zum Frühstück in Keşans Stadtzentrum nicht richtig einigen, fahren
dann aber dennoch unter Konrads Protest den Süd-Umweg und direkt ans Meer. Keşan
selbst, lernen wir erst heute kennen. Gestern Abend sind wir nur daran vorbei
gedüst und haben etwas außerhalb campiert. Wir entdecken die Moschee mit ihrer
türkisfarbenen Kuppel und den zwei Minaretten. Von hier aus hat uns also
gestern Abend der Imam in den Schlaf gesungen.
Während wir
auf einer Mauer sitzend frühstücken, verfolgen wir das morgendliche Treiben. Die
Schule scheint gerade zu beginnen, denn viele Kinder in feiner Schuluniform
laufen durch die Gassen oder fahren mit einem der vielen winzigen Mini-Busse zu
ihrem Ziel. Lieferwagen bringen dem Laden, wo auch wir uns mit allem Nötigen
versorgt hatten, frische Lebensmittel. Die Kisten stehen auf der Straße im
Verkehr, alle umfahren sie wie selbstverständlich. Gehupt wird trotzdem und
immer, selbst wenn alles läuft.
Auch wenn es
immer ein wenig schwer fällt, beginnen auch wir nun unser Tagewerk und brechen schließlich
auf. Viel Militär ist in dieser Gegend auf den Straßen unterwegs, man liest in
Reiseführern Warnungen, dass diese sehr rücksichtslos auf Radfahrer reagieren
und keinesfalls bremsen würden. Also sind wir auf der Hut. Immer noch unter
Protest erreicht Konrad den ersten richtigen Berg lange vor mir, indes mache
ich mich auf ordentlichen Tacheles gefasst, denn dass es hier gleich so hügelig
werden würde, hatten wir nicht ausgemacht, was ich aber auch wirklich nicht
wusste. Doch oben am Korudağ-“Pass“ (350 M ü. NN), strahlt Konrad über das
ganze Gesicht und auch ich verliere alle Anspannung und freue mich, denn was
wir sehen ist zum ersten Mal das Meer. Es ist eine herrliche Bucht des Ege
Denizi, des Ägäischen Meeres. Zwei kleine Inseln ragen aus den Fluten, des
Tauchparadieses Golf von Saros. Unter den strengen Augen Mustafa Kemal Atatürks,
der uns von einem Bild aus beobachtet, genehmigen wir uns in einem Restaurant
eine kühle Cola. Auch wenn die 350 Meter Höhe im Vergleich zum Balkangebirge
witzig wirken, sind wir schon ganz schön außer Atem. Vor hier aus kann man
dafür aber in Südwest-Richtung die Gallipoli-Halbinsel erkennen. Von Alexander
dem Großen, über die Großwesire des Osmanischen Reiches bis hin zum ersten
Weltkrieg diente dieser Ort allen als Ausgangspunkt oder Schauplatz für große
Schlachten. Und eben dieser Atatürk, vom Bild an der Wand des Restaurants,
begann da als siegender Befehlshaber der Schlacht von Gallipoli gegen die
Briten und Franzosen 1915 seine kometenhafte Karriere, die ihn schlussendlich
zum türkischen Volksheld und als Begründer und Präsidenten der modernen Türkei auch
weltbekannt machte. Die Cola zahle ich mit Geldnoten die sein Konterfei zeigen.
Wir fahren nun
auf einer schurgeraden Straße hinab ans Meer. Die Füße hineinstellen oder baden
können wir aber nicht, da es keinen Strand oder Meereszugang gibt. Eine Sumpf-
und Schilflandschaft breitet sich im Tal aus. Es ist ein Paradies für Vögel,
die hier zu Tausenden Zwischenstation auf ihrem langen Weg nach Afrika
einlegen. Auch Weißstörche waten auf der Suche nach saftigen Fröschen durch das
Schilf. Vielleicht kommt einer von ihnen ja auch aus Sachsen oder dem
Spreewald.
Im Örtchen
Kavak am Ende des Sumpfgebietes können wir uns zum letzten Mal auf der
Landkarte lokalisieren. Wie wir dann die nächsten Stunden verbracht haben,
erschließt sich mir bis heute nicht. Denn entweder war die Karte vollkommen
falsch oder die Landschaft hat sich seit dem Druck der Karte 1994 grundlegend
verändert. Es ging so los, dass wir die Straße nun verlassen mussten, da wir ja
nicht auf die Gallipoli-Halbinsel drauf und in eine Sackgasse fahren wollten.
Zwischen dem Ägäischen Meer und dem Marmarameer sind es hier, am Beginn der
trennenden Halbinsel, nur fünf Kilometer Luftlinie. Doch vom Anfang an führen
die Straßen nicht in die Dörfer, die es auf der Karte gibt. Zu erst quälen wir
uns an Bunkern vorbei einen Berg hinauf, kein Mensch ist zusehen, oben
angekommen steht mitten auf dem Weg ein Tor. Soldaten kommen angefahren und
weißen uns daraufhin, dass das ein militärisches Sperrgebiet ist. Ja so sieht
es auch aus. Den Versuch zu fragen, ob wir nicht dennoch hier langfahren
dürfen, hätte ich mir auch sparen können. Zurück zum Ausgangspunkt also und die
andere Straße nehmen, diese verliert schnell ihren Asphalt und ist nur noch
eine Schotterpiste. Wir durchfahren ein kleines Dorf, auf der Karte ist es
nicht zu finden und auch kein Mensch ist zu sehen, der uns weiter helfen
könnte. Hinter dem Dorf endet die Zivilisation, wie wir sie kennen und es
beginnt die Wildnis. Denn zwei Stunden lang begegnet uns kein Mensch, die fünf
Kilometer sind längst drei, vier und fünffach überschritten. Kein Marmarameer
ist zusehen, nur der Schotterweg und rotbrauner Boden und die vertrocknete
Landschaft. Es geht bergauf und hinab, teilweise fahren wir am Stacheldraht des
Militärischen Sperrgebietes entlang. Auf der linken Seite, werden die Berge
immer höher. In einer Senke mache ich kurz halt und warte auf Konrad, denn auf
den Hügeln um uns herum haben sich wilde Hunde versammelt. Sowohl zur rechten,
als auch zur linken Seite stehen sie da, wie Indianer, die gleich losschlagen
wollen. Es ist totenstille. Keiner von den etwa zehn Hunden bellt oder heult.
Sie sind gut 200 oder 300 Meter von uns entfernt, stehen da am Rand des Dickichts
und beobachten uns. Darauf zu hoffen, dass gleich ein Mensch vorbei kommt und
sie zurück pfeift, brauchen wir hier nicht. Sie würden wohl auch keinem
Menschen hörig sein. Wir stehen da und rühren uns nicht, sie stehen da und
haben uns umzingelt. Wir bewaffnen uns mit dem was wir haben: Der Eisenkette
und dem Pfefferspray, viel lieber hätte ich hier aber jetzt gerne einen Panzer
oder zumindest eine Ritterrüstung. Konrad fährt langsam weiter, ich möchte ihn
vor mir wissen, wenn es in den finalen Sprint geht. Kaum haben wir uns in
Bewegung gesetzt, ist dass das Signal woraufhin die Hunde losstürmen und
angreifen. Von allen Seiten stürzen sie wild kläffend zu uns herab. Beide
treten wir mit allen Kräften die wir mobilisieren können und unterstützt durch
eine ordentliche Ladung Adrenalin in die Pedale. Die Räder knallen über den
Schotter und das Geröll, für uns gibt es jetzt kein morgen und auch kein in
einer Stunde, allein diese Flucht zählt. Im Tunnelblick nur noch die nächste
Hügelkuppe, nach der es hoffentlich hinab in ein Tal und in Sicherheit geht. Hinter
mir kommen die Hunde immer näher ich kann sie hören und fühlen. Ich wage einen
Blick zurück, nicht eine Hand lass ich vom Lenker los, die Gefahr bei diesem
Tempo und auf dieser Piste zu stürzen ist zu groß. Was ich sehe sind sechs
Hunde, die fast schon auf meinem Gepäckträger sitzen. Zwei Große versuchen
immer wieder einen Angriffspunkt zu finden, scheitern aber vorerst an den
dicken Gepäckträgertaschen, dem einzige Schutz meiner Waden. Als sie mich endgültig
eingeholt haben, bleibt mir nichts anderes übrig, als volles Risiko zu gehen
und aus voller Fahrt eine Hand vom Lenker zu nehmen und mit dem Pfefferspray
zurückzuschlagen. Dieses vier Zentimeter kleine Sprühdose ist alles was ich
habe.
Geil! Den ersten
Großen treffe ich auf Anhieb im Gesicht, wimmernd dreht er ab und fliegt auf
seine Schnauze. Auch zwei weitere bleiben in den nächsten Momenten irritiert
stehen. Jetzt bloß nicht selbst auch noch hinfliegen, denke ich mir und
umgreife wieder mit beiden Händen den Lenker um die Sicherheit über mein
Fahrrad zurückzugewinnen, doch das Spray hört nicht auf zu sprühen. Und so
versprüht es sein Inhalt in die Luft und durch den Fahrtwind auch in mein
Gesicht, in meine Augen und auf meine Lippen. Alles brennt furchtbar, meine
Augenlider krampfen sich augenblicklich zu und tränen. Stur fahre ich weiter,
die Hunde müssen ja nicht unbedingt von meinem Fauxpas wissen. Ich höre sie
nicht mehr und da Konrad inzwischen eingeholt ist und die Gefahr vorbei zu sein
scheint, halten wir an. Stille. Keine Hunde. Schnell wasche ich mit allem
Wasser was wir haben, die Augen und Lippen aus, immer noch brennt es wie die
Hölle. So krass hatte ich mir Pfefferspray nicht vorgestellt. Wir sitzen eine
Weile am Rand des Weges und ruhen uns von dem Schrecken aus. Das hätte hier
auch schnell schief aus gehen können. Und was wäre dann passiert? Was wäre,
wenn einer gestürzt wäre? Hätten die Hunde uns aufgefressen? Aus der Distanz
von Deutschland aus klingt es übertrieben, aber dort in der Türkei, auf einem
Flecken Erde, der nicht mal in Karten verzeichnet ist, und wo Hunde keinen
haben der sie brav füttert, da könnte ich mir zumindest vorstellen, dass sie es
versucht hätten. Es war der letzte Hundeangriff auf unserer Tour von Dresden
nach Istanbul, es war eine letzte Prüfung und Hürde. Der finale Akt.
Wenig später
erkennen wir am Horizont wieder das Meer. Dieses Mal ist es das Marmarameer,
was sich im tiefen blau vom braun der dürren Landschaft abhebt. Nur noch da runter, nur noch ans Meer und
dann muss diese Ödnis ja ein Ende haben, sagen wir uns und suchen den Weg. Doch
so einfach ist es nicht, die Wege führen nicht hinab, sondern wirren sich hier
oben durch die Gegend. Bald verlassen wir die Wege gänzlich und fahren auf dem
vertrockneten Boden zu Häusern, zur Zivilisation, die wir ausgemacht haben. Doch auch Häuser
versprechen keine Menschen. Müssen wir lernen. Viel mehr scheint hier eine
Immobilienblase geplatzt zu sein. Ein ganzes Feriendorf ist im Rohbau
eingeschlafen und nun holt sich die spärliche Natur ihren Besitz zurück.
Endlich wieder Asphalt unter den Rädern habend, fahren wir durch das Dorf. Kaum
ein Haus ist wirklich fertig und bewohnbar. Alle sind weggegangen. Vielleicht
haben auch immer wieder malträtierende Hundebanden das Dorf heimgesucht und
alle Bewohner aufgefressen? Gut vorstellbar.
Wir suchen uns
einen Weg zum Meer und finden ihn schließlich auch. Direkt am Ufer ist ein
Laden, der noch nicht aufgegeben wurde und wo wir wieder Wasser und andere
Getränke nachkaufen können. Still wählen wir aus, was wir brauchen. Der Mann an
der Kasse schaut uns an und beginnt, als wir bezahlen wollen, zu sprechen. Ich
kann kein Türkisch. Konrad kann kein Türkisch und dieser Mann kann ganz gewiss
auch kein Türkisch. Denn auch wenn wir nur einige wenige Wörter kennen, so
kennen wir doch den Klang dieser Sprache ziemlich gut. Er spricht in
Knacklauten, tief aus seiner Kehle kommen Geräusche komplett ohne Stimme. Wir
geben staunend einen Atatürk-Geldschein hin, doch er redet weiter und weiter.
Unsere Gesten müssten in der ganzen Welt als
wir-haben-keine-Ahnung-was-sie-uns-sagen-wollen verstanden werden, doch er
knackst unentwegt weiter. Zum Glück, kommt ein Junge in den Laden, schiebt den
Mann beiseite und kassiert uns ab. Wir setzen uns auf eine Bank am Meer,
genießen die eisgekühlten Getränke und fragen uns dabei immer noch, was das
eben in dem Laden war, was das für ein ausgestorbenes Nest ist und wo, zur
Hölle, wir überhaupt sind.
Letzteres
versuche ich von einem älteren, türkischen Ehepaar direkt eine Bank weiter zu
erfragen. Lange studieren sie bedenklich die Landkarte und tippen dann unsicher
auf Sarköy. Sarköy? Ganz sicher nicht! Denn Sarköy soll einen Hafen, eine
Polizeistation, ein Krankenhaus, ein Postamt, eine Tankstelle, drei Campingplätze
und ganz fundamental auch Straßen, die den Ort mit der Außenwelt verbinden,
haben. Nichts davon ist hier vorhanden. Das umherirren in dieser Gegend geht
noch eine ganze Weile so weiter, eine Küstenstraße will sich partout nicht vor
uns auftun. Schlussendlich müssen wir wieder von der Küste fort ins bergige
Hinterland fahren, zwar sind wir jetzt wieder unter Menschen, kommen dabei aber
nicht so richtig vorwärts. Das lässt sich auch statistisch belegen, denn unsere
Durchschnittsgeschwindigkeit war seit dem sechsten Tag unserer Tour nicht mehr
so niedrig, damals aber – es sei nochmal in Erinnerung gerufen – bin ich auch
mit einem gebrochenem Tretlager durch Südböhmen gegurkt.
Inzwischen
sind wir aber wieder auf Asphalt unterwegs und müssen daher nicht so viel Kraft
in das ewige Hin und Her zwischen Küste und Dörfern im unmittelbaren Hinterland
aufwenden. Innerhalb weniger hundert Meter kann sich dabei die Landschaft
grundsätzlich ändern. Am Meer sieht es aus, wie an jedem Meer auf dieser Welt
eben aussieht: Strand und Häuser. Weiter entfernt sind da diese roten Felsen und
kleine, trübe Seen dazwischen in den Schluchten. Auf dem Marmarameer sieht man
viele große Tanker, die auf dem Weg zum Bosporus und zum Schwarzen Meer sind.
Ein paar Mal geht es noch steil an die Küste zurück und einmal auch wahnwitzig
steil wieder hinauf in die Marslandschaft, so dass man fast, aber nur fast,
absteigen und schieben muss. Dann sind wir wieder auf der Erde angekommen, eine
normale Stadt mit normaler Infrastruktur erwartet uns: Sarköy. Das Umherirren
hat nun ein Ende. Karte und Realität stimmen wieder miteinander überein und
eine Straße geht, wie es sich gehört, an der Küste entlang. Auch die Tankstelle
ist da und wir nutzen sie zur Erleichterung.
Als ich
wiederkomme führt Konrad Smalltalk mit den Einheimischen. Was Aufgrund der
Sprachbarriere eigentlich unmöglich sein musste. Doch der eine Türke, er ist in
seinem besten Jahren, spricht fließend
deutsch, lebte viele Jahre in Deutschland, ging da zu Schule und wuchs dort auf. Er berichtet Konrad von der
aktuellen Trockenperiode, die uns auch schon allerorts aufgefallen war. Konrad
erzählt ihm von der Radreise und beantwortet die Frage, wie ihm die Türkei
gefalle, mit großem Heimweh nach Deutschland. Der Türke erzählt daraufhin eine
Anekdote aus seiner Schulzeit in Deutschland: Der Lehrer habe ihn gefragt, was
schöner sei: Deutschland oder die Türkei. Er antwortete damals, obwohl er in
Deutschland schon sein ganzes Leben lebte: „Natürlich die Türkei“. Der Lehrer
war verwundert, darauf gab der Türke: „Es ist doch die Heimat.“ Und da hat er
so sehr Recht. So viel schönes haben wir auf unserer Reise gesehen, so viele
nette Menschen sind uns begegnet, aber niemals würden Konrad oder ich
Deutschland den Rücken kehren, denn da ist es am allerschönsten auf der Welt.
Nur merkt man das erst, wenn man einige Zeit nicht mehr da war und aus der
Ferne dann zurückdenkt an die Heimat. An Sachsen. An Dresden. An Zuhause.
Wir fahren nun
die Küstenstraße recht idyllisch entlang und passieren dabei die Orte Mürefte
und Güzelköy, wieder liegen sie anders als auf der Karte verzeichnet, aber dank
des Meeres und der Straße und der Menschen kann man sich nicht mehr verirren. Am
Wegesrand entdecken wir nun immer öfter Feigen- und Olivenbäume. Überhaupt ist
es hier in der abendlichen Stimmung jetzt so wie es mir vorgestellt hatte.
Ruhig radeln wir dahin, rechts das Meer und links die immer steiler und höher
werdenden Felsen. Einzig wird die Stimmung dadurch gestört, dass Konrad wieder
seinen Reisedurchfall aus Bulgarien bekommen hat und auch ich inzwischen in
jedem Ort die Örtlichkeiten für einige Zeit aufsuchen muss. Wir wollen daher schnellstmöglich
den Tag auf dem Rad für beendet erklären und suchen einen Zeltplatz.
Inzwischen hat
sich aber die Struktur der Landschaft in soweit verändert, dass direkt neben
der Straße das Meer beginnt und auf der anderen Seite die steile Felswand
sofort da ist. Gut auf einem schmalen Streifen Geröll könnte man zwar
campieren, aber doch bitte nur im aller äußersten Notfall. Wir schlängeln uns
um Kurve und Kurve weiter die Küstenstraße entlang und haben schon fast die
Hoffnung aufgegeben, irgendetwas Annehmbares zu finden, als wir schließlich ein
paar Bäume erspähen. Beim näherkommen sind es nicht nur Bäume, sondern eine
vielleicht zweihundert Meter breite Schlucht in den Felsen, auf deren Grund ein
paar Häuser gebaut sind und sogar ein Campingplatz ist hier plötzlich
ausgeschildert. Eine kleine Oase am Meer. Sogar ein Restaurant gibt es hier.
Wir fragen ob wir das Zelt aufstellen dürfen und man weißt uns einen Platz
zwischen verknurrten Bäumen, auf spärliche bewachsenem Grund, direkt am Meer
zu. Ein Klo ohne Klopapier gibt es auch. Duschen aber nicht. Wir wollen wissen,
was der Mann für die Nacht haben will und erwarten wie gestern Abend auch, ein
Abwinken, worauf wir dann ein oder zwei Bier bestellt hätten und Quitt wären.
Doch er meint, dass der Besitzer ungefähr 20 türkische Lira, also 10 Euro,
verlangen könnte. Komisch. Warum nur so ungefähr und warum hat der Besitzer
dieses Minizeltplatzes auch noch einen Sprecher der für ihn die Verhandlungen
führt? Wir wittern etwas in der Luft und fragen, ob dass hier wirklich der
ausgeschilderte Zeltplatz sei. Der Mann meint, es gebe um die Ecke noch einen
Zeltplatz, ihm sei egal, wenn wir dorthin gehen würden. Wir prüfen es. Einen
weiteren Minizeltplatz, mit ähnlicher spärlicher Ausstattung, finden wir vor.
Der Preis? 20 türkische Lira. Ein Preiskartell! So wird das nichts mit dem
EU-Beitritt der Türkei.
Wir gehen
wieder zurück und bauen unser Zelt bei dem Sprecher des ersten Zeltplatzes auf.
Der Untergrund ist zwar steinhart, aber die Lage ist echt schön. Direkt am
Meer, geschützt unter Bäumen. Im
örtlichen Restaurant sitzt wieder der Sprecher und als wir ihn nach Preisen für
Speisen oder Getränke hier fragen, faselt er weiter nur so undurchsichtiges
Zeug: Er müsse erst jemanden fragen, wir sollen aber schon mal bestellen.
Äußerst dubiös. Das geringste Risiko ist in unseren Augen eine Melone, die wir
da rumliegen sehen. Der Preis? Muss erst erfragt werden. Als wir sie gegessen
haben und nichts Weiteres bestellen wollen, kostet sie wie alles hier, 20
türkische Lira. 10 Euro für ‘ne Melone die er hier bestimmt irgendwo nur aus seinem
Garten gepflückt hat. Wir fühlen uns übers Ohr gehauen und ziehen uns zum Zelt
zurück. Wir sind einem Monopolisten aufgesessen, der zwei kleine Flächen Land
als Zeltplätze deklariert hat um den Schein eines freien Konkurrenzmarktes zu
waren. Wie MediaMarkt und Saturn, die beide zum Metrokonzern gehören und
dennoch so tun, als ob sie beide einen brutalen Preiskampf gegeneinander führen
würden. Hier kommt nun noch erschwerend hinzu, dass auch das Restaurant, als
einzige Nahungsbeschaffungsstelle im Ort,
in der Hand des Monopolisten von Uçmakdere ist, welcher für alle seiner Leistungen
den Einheitspreis von 20 türkischen Lira verlangt. Die kann er sich gerne
morgen früh abholen. Oder er schickt seinen Sprecher, vermutlich auch nur eine
Personalunion, aber wir werden nicht auf ihn warten. Wenn wir morgen früh alles
abgebaut und verstaut haben, fahren wir los. Und morgen früh werden wir unser
Zelt sehr, sehr, sehr leise abbauen und wir werden auch sehr, sehr, sehr früh
los fahren, dass steht fest.
Wir setzen uns
am Abend noch eine Weile ans Meer, praktischer Weise stehen da nämlich ein
Tisch und zwei Stühle, und warten bis die Sonne untergegangen und es
stockfinster geworden ist. Das Meer rauscht leise über die Kieselsteine des
Strandes. Man sieht die Lichter einer Insel und der großen Containerschiffe die
am Horizont vor Anker liegen. Der Mond steht hoch über uns und die Sterne erwachen
langsam. Was war das heute für ein merkwürdiger Tag.
#29
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Sonnabend, 13.09.2008
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Uçmakdere - Tekirdag – Kumburgaz
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126,7km
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7:09 h
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av.
V = 17,7 km/h
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↗ 1336 hm
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↘ 1324 hm
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av. P = 100 W
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24°C - 28°C, bewölkt, ab Nachmittag heiter
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n.V.
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Einem
hochpräzisem Spezialkommando gleich, packen wir blitzschnell und lautlos unser
Lager zusammen und schieben die beladenen Fahrräder zurück auf die Straße,
springen auf und knallen los. Es ist gegen 7 Uhr. Die kleine Siedlung des
Monopolisten haben wir im Nu hinter uns gelassen und freuen uns diebisch, dass
wir nun die sind, die am Ende lachen. Die 20 Yitel - so nennen wir die
türkischen Lira auf Grund ihrer Abkürzung YTL liebevoll - für die Nacht haben
wir gespart. Unsere Straße führt uns nun vom Meer weg und bei leichtem Anstieg
in das grüne Tal hinein, welches zwischen den schroffen Felsen entstanden ist.
Direkt an der Küste wäre es nicht weitergegangen, weil die Steilküste, wie der
Name schon sagt, steil ab bis ins Meer hinein fällt und nicht einmal Raum für
einen Weg lässt. Am Rande der Straßen wachsen wieder Feigenbäume und heute
tragen sie auch endlich reichlich reife Früchte. Ich komme an Feigen nicht
heran, aber Konrad schlägt sich erst einmal richtig den Wanzt mit diesen
Früchten voll.
Nach nur etwa
ein bis zwei Kilometern erreichen wir am Ende des Tales den eigentlichen Ort Uçmakdere.
Unsere Nacht hatten wir quasi nur an dem Küstenvorposten des Dorfes verbracht,
welches dann aber auch nicht viel größer ist. Ein paar Häuser mehr stehen hier,
einige davon auch uralt und aus Holz, sowie einen kleiner Laden, mehr finden
wir nicht vor. Die alten Männer des Dorfes sitzen auf einer Bank am Straßenrand,
beobachten unsere Ankunft und rauchen sich die Lunge frei. Unser Blick fällt
auf eine schmale Straße, die sich steil am Rand des Berges hinaufzieht. Ein
kleines Wunder ist es schon, dass sich dort und bis hoch der Platz dafür
gefunden hat. Ein Auto kommt zügig darauf ins Tal gebrettert und wirbelt eine
große Staubwolke hinter sich auf. Unsere Angst, dass es ein Schwager des
geprellten Zeltplatzbesitzers ist, der nun gerufen wurde uns zu suchen,
verfliegt schnell als er sich nicht für uns interessiert, sondern seinen Platz
bei den anderen Männern einnimmt und eine ganz ruhige Kugel schiebt.
Nachdem Frühstück
will es unser Karma eben so, dass wir alternativlos die Schotterpiste hinauf
müssen, aus der eben der Wagen hinab geklappert kam. Frühmorgendlich ist der
Körper von der Nacht auf dem harten Untergrund noch eingerostet und das
Marmeladenbrötchen noch nicht verdaut und in Wadenenergie umgewandelt worden
und so fällt es schwer die Aussicht auf die urwüchsige Landschaft zu genießen.
In langgezogenen Serpentinen geht es auf dem Schotterweg hochhinaus, begleitet
werden wir nur von der Stromleitung, welche das Dorf mit der restlichen
Zivilisation in Verbindung hält. Einmal kreuzen wir auch den Weg einer
Ziegenherde die auf einem nur ihnen bekannten Pfad vom Meer hinauf kommen und
nun klaglos weiter ziehen. Uns ist ganz anders zu Mute: Teilweise weißt unsere
Piste solche Steigungen auf, dass das Hinterrad des Fahrrades trotz der
schweren Gepäckträgertaschen durchdreht und wir nicht weiterkommen. Flüche
hallen durch die einsame Landschaft zwischen Bergen und Meer. Serpentine um
Serpentine geht es langsam hinauf. Die Luft ist diesig, der Horizont des Meeres
ist unscharf und verschwimmt mit dem Himmel. Es ist durchaus nicht unangenehm,
denn sengende Hitze würde die Sache hier und heute nicht leichter machen. Die
Reifen knirschen über die groben Steine. Der Fahrradcomputer zeigt
Geschwindigkeiten im einstelligen Bereich an, nur der Höhenmesser scheint
unsere Leistung zu honorieren: 400 Meter sind wir nun schon über dem Meer.
Manchmal geht es direkt neben der losen Piste hunderte Meter hinab in karge
Schluchten, zerschellte Autowracks zeigen, dass man sich eher nicht im
Grenzbereich der Geschwindigkeit bewegen sollte, aber wie gesagt: wir bleiben
einstellig und zwar deutlich.
Hinter jeder
Kurve erhoffen wir irgendetwas zusehen, was uns Freude macht: Eine
Asphaltstraße vielleicht oder ein Dorf oder auch nur ein Schild, welches uns
sagt, dass wir noch richtig sind und dass das alles hier Sinn macht. Hin und
wieder erinnert mich Konrad an unsere Diskussion von gestern morgen, in welcher
wir den weiteren Tourverlauf thematisierten. So mühsam und zäh hatte ich es tatsächlich
nicht erwartet, denn schon bald ist es Mittag und wir sind auf der Karte immer
noch zwischen unserem Startort und dem nächsten Dorf. Wer weiß wo wir jetzt
fahren würden, wenn wir gestern der direkten Transitstraße gefolgt wären. Mit
Sicherheit wäre Istanbul deutlich greifbarer, als hier und jetzt in dieser
Pampa. Auf der anderen Seite hat diese
Gegend aber auch einen Charme und einen Reiz, den man ihr nicht abschreiben
darf. Denn ständig fällt der Blick auf das blaue Meer, welches sich vom
verstaubten Braun der Landmasse abhebt. Links und rechts der Piste ist
unwegbares Gelände und immer wieder kann man etwas entdecken, wie zum Beispiel
einen kleinen Canyon der in regenreicheren Jahreszeiten als Abfluss zum Meer
dient oder einer Quelle die in ein Becken in Badewannenform fließt. Außerdem
kommen nur sehr selten andere Verkehrsteilnehmer diese Piste entlang und wir
haben ansonsten Ruhe.
Irgendwann
erreichen wir Yeniköy, das zweite Dorf des Tages, welches geschützt in einer
Senke liegt in der auch Grünes wächst. Die Häuser sind verschlafen und
verwinkelt in die bergige Landschaft gebaut, sie haben kleine Gärten und Tiere.
Einen Laden finden wir keinen. Ein paar mal geht es noch kurz auf und ab durchs
bergige Hinterland, dann ist die Straße endlich wieder mit einem festen
Asphaltband bezogen und führt in einer waldigen Abfahrt hinab ans Meer. Einmal
noch begegnen wir einem Hund, bereiten uns mit Eisenkette und Pfefferspray fast
schon routinemäßig auf dieses Aufeinandertreffen mit ihm vor. Als wir dann aber
laut schreiend auf ihn zu stürzen, springt er über ein Mäuerchen davon und
sucht das Weite. Er wird sich gewundert haben, was hier gerade vor sich ging,
mit soviel Aggressivität ist ihm wohl noch niemand über den Weg gelaufen. Aber
bei Hunden muss man – und wenn wir nur eine Lehre aus dieser Reise ziehen
sollten – immer tierisch aufpassen und immer von der bösesten Bestie ausgehen.
Die Abfahrt
führt uns zurück ans Meer und in den Küstenort Kumbağ. In Kumbağ
fühlt man sich wieder wie in der Realität und zurück in der Welt wie man sie
kennt. Ein Städtchen mit allen drum und dran, wie es überall in Südeuropa am
Meer stehen könnte. Ein kleiner Fischereihafen ist da, ansonsten ein schöner
Sandstrand und ansonsten hauptsächlich Zweckbauten. Erwähnenswert sind
vielleicht die alten Holzhäuser, die typisch für diese Gegend sind oder besser:
lange vor unserer Zeit typisch waren. Jetzt findet man sie noch vereinzelt,
aber eigentlich nur im verfallenen Zustand. Dennoch kann man sich mit ein wenig
Phantasie vorstellen, wie es hier vor einhundert Jahren ausgesehen haben
könnte. In einer Zeit, in der hier das Osmanische Reich begann und bis Ägypten
reichte. Jeder Ort war weitestgehend für sich allein und nur umständlich über
den Landweg zu erreichen. Man hat das Gefühl die Megastadt Istanbul zieht seit
je her alle Aufmerksamkeit auf sich, so dass kleine Städte in der “Nähe“ gar
nicht erst versuchen, Besonderheiten zu entwickeln und sich selbst in den Fokus
stellen. Egal ob Kumbağ, Barbaros oder Tekirdağ - wie die folgenden
Städte, die wir an der Küste durchfuhren hießen – eine Stadt gleicht der
nächsten und keine bleibt groß in der Erinnerung hängen und dabei ist
letztgenannte über 100.000 Einwohner groß. Wir kommen von nun an zwar hügelig,
aber dennoch zügig vorwärts. Verfahren wäre ein Ding der Unmöglichkeit, weil
die Straße die Küstenorte recht direkt verbindet.
In Tekirdağ treffen wir auf die Transitstraße aus Keşan
und folgen ihr ostwärts. Der Verkehr nimmt deutlich zu, wir fahren in den Orten
auf Gehwegen und außerhalb auf dem Standstreifen, so dicht wie möglich an der
Leitplanke. Die Rahmenbedingungen für die Fahrt am Marmarameer entlang, sind
alles andere als schön: die Luft ist erfüllt mit Abgasen, die nur wenig Platz für
Sauerstoffmoleküle zulassen, es ist laut und hektisch, monotoner und endloser
Verkehr rattert an unserer rechten Seite vorbei, Müll liegt am Rand der Straße
und dem Brachland bis hin zu den ersten Grundstücken, auf denen aber auch nur
selten Grünes wächst. Wozu auch? Wir haben das Gefühl, dass das
Bruttoinlandsprodukt der Türkei komplett am Rande dieser Straße erwirtschaftet und
gleich wegtransportiert wird. Und dennoch sind wir guter Dinge, wir verspüren
beide eine unheimliche Kraft, die uns voran treibt. Die Zahl der
Kilometerangaben bis Istanbul, die uns ständig die blauen Schilder anzeigen,
sinkt stetig. In Tekirdağ sind es
noch 150 Kilometer bis zum Ziel, ein halbe Stunde später sind es nur noch 135
Kilometer, im nächsten Ort sinkt die Zahl auf 130 Kilometer. Wie Eis in der
Sonne schmilzt die Zahl. Wir sind auf der Zielgeraden und nichts und niemand
und erstrecht keine Hügel kann uns jetzt mehr aufhalten. Selbst das permanente
und wohl obligatorische Hupen der motorisierten Verkehrsteilnehmer wird von den
Endorphinen in Fanfaren umgedeutet. Im Kopf beginnen nun Rechenspielchen, die
an den Physikunterreicht der sechsten Klasse erinnern:
Wenn ich konstant 25 Kilometer pro Stunde
fahren würde, was man im Moment als realistisch einzuschätzen ist, bräuchten
wir noch: (130 geteilt durch 25) Stunden. Das sind dann also fünf Stunden und
5/25*60 Minuten… ach hätte mein Fahrradcomputer doch neben seinen unzähligen
Funktionen, auch noch eine Taschenrechnerfunktion … 12 Minuten, es wären noch 5
Stunden und 12 Minuten. Vier Wochen sind wir bis hierher unterwegs gewesen und
nun sind es nur noch läppische fünf Stunden und winzige zwölf Minuten reiner
Fahrradfahrzeit bis das Ende von Europa aus eigener Muskelkraft heraus
erreicht ist. Der Gedanke ist noch unvorstellbar,
aber traumhaft schön. Gerade ist es 13
Uhr, wir würden also noch vor Sonnenuntergang in Istanbul ankommen, wenn wir
einfach nur die gesamte Zeit eisern wie eine Dampflok durchtreten. Was seh‘ ich
da? Ein blaues Schild! Konrad erkennt die weiße Zahlen immer viel eher als ich:
„128“ ruft er, einem Countdown gleich. 128 Kilometer bis Istanbul. Und wieder
geht es im Kopf los: 128 geteilt durch 25 sind… und so weiter. Zum Glück reicht
es uns in dieser Modellrechnung, dass wir davon ausgehen können, dass keiner
niemals bremst oder bergab schneller wird. Beschleunigungen, vielleicht auch
noch ungleichmäßige, gehen hier jetzt nicht zu berechnen. Man muss sich auf die
Sechstklassenphysik beschränken und merkt dabei, dass man eben doch fürs Leben
und nicht für seine Lehrer, Eltern oder Noten lernt. Zumindest im
Physikunterreicht der sechsten Klasse.
Ja, im Geiste
haben wir nun die hinreichend begründete Hoffnung, dass wir heute Abend noch bis
nach Istanbul kommen. Man muss es ja nicht bis in die Blaue Moschee schaffen. Es
reicht ja, wenn man am Rande der Stadt einen Zeltplatz findet, wo das Lager
aufschlagen werden kann und um dann seelenruhig mit der Gewissheit einzuschlafen,
dass man es endlich geschafft hat. Am nächsten Tage schlendert man dann
gemütlich wie ein Pauschaltourist in die nächste Straßenbahn und dreht bequem
seine Sightseeing-Runden. Denn der Gedanke, dass man als schutzloser Radfahrer
in diesem wahnsinnigen Verkehr bis ins Herz der Weltstadt hineinstoßen soll,
ist schlicht nicht vorstellbar. Es soll schon Radreisende gegeben haben, welche
sich die letzten zweihundert Kilometer komplett geschenkt haben und im Bus den
Abschluss dieser langen und überwiegend grandiosen Reise fanden. Das wollen wir
wahrlich nicht, aber diese Exit-Strategie, so unglaublich sie aus der Ferne
auch scheinen mag, wird verständlich, wenn immer wieder unerwartet von rechts
eine mehrspurige Zufahrt den Standstreifen – und unsere Schutzzone - durchdringt und jäh beendet und wir somit
plötzlich im Rausch des Verkehres hilflos umzingelt sind. Tonnenschwere
Sattelzüge knallen links und rechts vorbei, PKWs wechseln blitzschnell in jede
freie ihnen sich bietende Lücke, wild wird von allen Seiten gehupt und keine
Sekunde hat man die Zeit innezuhalten um aus diesem ständigen Strom
auszusteigen. Einmal macht sich ein Spaßvogel auf einem Beifahrersitz einen Jux
und kickt mit seinem Fuß aus dem geöffnetem Fenster nach Konrads Kopf. Auch
wenn er ihn nicht trifft und hoffentlich auch nicht treffen wollte, sitzt der Schreck
tief in den Knochen. Man, was soll die Scheiße? Ich muss nicht erwähnen, dass
wir auf diesem Teilstück der Strecke ständig die Helme trugen, auch wenn der
Wind in den Haaren die einzig verbliebene Freude war. Die Helme fuhren wir zu 95
Prozent der Tour, auf unser Gepäck geschnallt, einfach spazieren. Aufgesetzt
haben wir sie eigentlich nur, wenn es in rauschende Abfahrten ging, zum
Beispiel am Troyan-Pass oder wir im Verkehr einer Großstadt, wie hier die
schwächsten Teilnehmer waren. Leider
verschwindet das Auto mit dem Übeltäter schnell im Verkehr und so muss die Wut
innerlich verpuffen. Fast, den als kurze Zeit später Konrad am Rand stehend von
einem Auto angehupt wird, obwohl er sich schon wirklich so weit wie Möglich an
die Leitplanke gedrückt hat, brüllt er den Autofahrer zusammen. Dieser indes
weiß nicht wie im geschieht, da er eigentlich nur helfen wollte, wie sich
später herausstellt. Gut und Böse sind dicht beieinander und nicht voneinander
zu unterscheiden und so sind Kollateralschäden eben nicht zu vermeiden. Sorry.
Als wieder
einmal ein blaues Schild die Entfernung nach Istanbul auf nur noch 85 Kilometer
schätzt, beschließen wir uns eine Auszeit zu gönnen. Es ist schon 15 Uhr und
wir haben mächtigen Kohldampf und außerdem wollen wir dem ganzen Chaos einfach
mal entfliehen. In Marmaraereğlisi, einem Fischerei und Tourismusort,
fahren wir ab und setzen uns an der Uferpromenade in ein Restaurant und
speisen. Irgendwie haben wir das Gefühl, dass wir uns nun schon genügend gemüht
haben und nun mal andere für uns arbeiten können. Dem Kellner des Ladens
erstellen wir der Einfachheit halber einen Freischein: Er soll uns einfach
irgendwas bringen. Ob das eine gute Idee war, wird sich später herausstellen.
Jetzt sitzen wir einfach mal da, auf Stühlen, trinken Wasser aus Gläsern,
genießen den Augenblick des Nichtstuns und nebenbei stöbern wir im
Istanbul-Reiseführer.
Irgendwie
haben wir uns auf die Ankunft kaum vorbereitet. In vier Tagen erst geht unser
gebuchter Rückflug und was wir bis dahin machen und unternehmen, ist noch
völlig Ungewiss. Wir erfahren so, dass das Netz des öffentlichen
Personennahverkehrs in dieser Stadt recht kompliziert ist: Es gibt keine flächendeckendes
Straßen- oder U-Bahn. Vielmehr muss man diese noch mit Minibussen, Sammeltaxis,
Fähren und Vorortbahnen kombinieren. Was
durchaus eine Herausforderung darstellt, da man wohl kaum Pläne des Netzes
vorfindet. Nun ja, wir werden es erleben. Als nächstes versuchen wir ein paar
Worte Türkisch aus dem Anhang des Buches zu lernen. Den ersten Versuch starten
wir indem wir den Kellner fragen wo die Moschee sei. Laut Buch heißt Moschee
Cami. Und laut Ausspracheregeln, sollte wir mit Dschami eigentlich verstanden werden. Der Kellner versteht uns aber
partout nicht und blickt uns nur achselzuckend an. Weitere Versuche scheitern
auch kläglich und so geben wir ihm einfach unseren Fotoapparat und lassen uns
hier beim einzigen Restaurantbesuch der Reise fotografieren. Jetzt denkt er,
wir meinten genau das mit Dschami und
braucht nicht länger zu grübeln. Wir indes beenden hiermit für uns das Kapitel
des Türkisch Lernens.
Das Essen
(verschiedene Fleischsorten, viel Salat und delikate Teigröllchen) war lecker
und reichhaltig, der Preis am Ende auch okay und so ziehen wir nach einer
Stunde weiter. Die Moschee fanden wir indes nicht, vielleicht gibt es hier auch
keine, aber das ist sehr unwahrscheinlich, denn von der Straße aus sieht und
hört man ständig Moscheen. Nur scheint sich kein Mensch dafür zu interessieren.
Irgendwie hatte ich schon erwartet, dass ich den ein oder anderen Muslimen
sehe, der alles stehen und liegen lässt und zur Moschee eilt oder sich einen
Teppich schnappt und ihn gen Mekka ausrichtet. Aber nichts dergleichen
passiert, stattdessen frönt jeder weiter seinem Tagewerk. Wir auch. Zurück in
den Krieg der Europastraße 84. Hinter Silvri, etwa zwanzig Kilometer nach dem
Mittagsmahl, verbindet sich diese Straße mit einer weiteren Europastraße und
fusioniert zu einem Ekspres yol, was
einer Schnellstraße entspricht.
In Silvri,
wurde vor 1500 Jahren die Anastasiusmauer bis hinauf zum Schwarzen Meer gebaut.
Sie ist eine der eine der größten Verteidigungsanlagen der Antike im
kontinentalen Europa und durchaus mit dem Hadrianswall in Engalnd vergleichbar.
Bis zu vier Meter hoch und bewacht durch einige Festungen war dieses Bollwerk.
Leider fallen immer wieder Abschnitte dieser Mauer dem Straßenbau zum Opfer und
so lesen wir zwar von ihr, doch bekommen sie nicht zu Gesicht. Wenn ich
schreibe, dass wir hier in der Stadt Silvri sind, dann tue ich das, weil es auf
der Karte so geschrieben steht. In der Realität sind wir die ganze Zeit in
städtisch bebauten Gegenden unterwegs, die so ineinander verwachsen sind, dass
man nicht weiß, wann man die eine Stadt verlässt und in die nächste
hineinkommt. Auf der Schnellstraße macht es ja sowieso keinen Unterschied, da
man einfach nur gerade aus fährt, wobei das Streckenprofil weiterhin hügelig
dahin wellt.
Wir halten
inzwischen bereits die Augen nach einem Zeltplatz aus, da dass heute nichts
mehr mit Istanbul wird. Zwar kann man vermutlich die Stadt schon sehen,
irgendwo wird sie urplötzlich beginnen, wie all die anderen Städte, aber
leichter wird das finden eines Zeltplatzes da sicher auch nicht und Nächtens
durch die Straßen zu irren, stellen wir uns nicht wirklich entspannend vor.
Laut Karte müssten hier überall Campingplätze sein, aber kein Schild weißt vor
Ort daraufhin. Immer wieder fahren wir von der Schnellstraße ab und irren durch
die Straßen, Gassen und Wege, finden aber nicht mal ein Plätzchen zum
wildcampen. Die Menschen die wir fragen, sind freundlich wissen aber auch nur,
dass gerade hier kein Zeltplatz ist. Nicht mal am Meer findet sich etwas, da
überall bis ans Wasser gebaut worden ist. Auf einem Parkplatz der ebenfalls bis
ans Wasser reicht, spricht uns ein deutsches Urlauberpaar an. Vage meinen sie
sich daran erinnern zu können, dass in Kumburgaz, etwa zehn Kilometer weiter,
ein Schild auf einen Zeltplatz weist.
Auf ihr Wort
war Verlass und so erreichen wir zum Sonnenuntergang den Platz. Den ersten
Eindruck schlucken wir einfach regungslos hinunter, denn außer Betonboden und
schlecht und dicht zusammengezimmerten Bungalows ist nichts zusehen. Die
Besitzerin dieser wenig einladenden “Anlage“ fragt sich auch, was wir hier wollen.
Wir zeigen ihr das Zelt, sie überlegt hin und her und führt uns schließlich an
den Strand. Von all dem was wir bis hierher gesehen haben, ist das auch mit
Abstand der schönste Fleck, wenn auch bei weitem nicht so idyllisch, wie letzte
Nacht: Bis zum Horizont ist am Meer entlang in beide Richtungen alles zugebaut.
Wir bauen routiniert das Zelt auf und sind uns bewusst, dass es zum letzten Mal
nur ein Provisorium für eine Nacht werden wird. Waschen wollen wir uns erst im
Meer, aber als dann ein gebrauchtes Kondom angeschwappt kommt und die Füße
ständig auf irgendwelche unidentifizierbare Gegenstände in der trüben Suppe treffen,
wird der Plan verworfen und wir suchen die Duschen, nach denen wir die Frau
noch gefragt hatten. Zwischen einer Mauer und dem Abwasserkanal führt der kurze
Weg zu den Duschen an dessen Ende auch noch eine zerfleischte Taube von Fliegen
belagert wird. Die Dusche an sich wird in ihrer Ekligkeit von nichts bisher
gesehenem übertroffen. Dazu der Geruch von Urin, Exkrementen und dem Abwasserkanal.
Den das Geschäft verrichtet man hier direkt unter Dusche, stehend oder hockend
in ein Loch in den Boden hinein. Zu allem Überfluss kommt auch noch ein kleiner
Junge um die Ecke und will von uns Geld fürs Duschen abkassieren. Wortlos führe
ich ihn an der Taube vorbei zur Zeltplatz-Chefin, die wohl auch seine Mutter
ist. Sie klärt die Sache zu unseren Gunsten. Das duschen lassen wir dann
dennoch, ich möchte ja nicht der erste Europäer sein, der nach 500 Jahren
wieder an der Pest erkrankt. Und hier in
diesem Loch braut sich ganz Gewiss eine solche Krankheit zusammen, auch wenn es
hart klingen mag, waren hier Ratten gewiss nicht weit.
So endet der
Tag mit einem komischen Gefühl in der Magengegend. Schlafen können wir dennoch
sehr gut, wohl auch weil dieser Tag der bergigste unserer gesamten Tour war.
Mit 1336 Höhenmetern, verweist er den Tag durchs Balkangebirge (1267
Höhenmeter) und den Tag hinter Prag durch Südböhmen und den Böhmerwald (1217
Höhenmeter) knapp auf die Plätze. Morgen erreichen wir das Ziel, bis Istanbul
hinein sind es noch höchstens 50 Kilometer und dann ist es geschafft.
#30
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Sonntag, 14.09.2008
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Kumburgaz - Istanbul
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63,8km
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4:06 h
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av.
V = 15,5 km/h
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↗ 478 hm
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↘ 480 hm
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av. P = 60 W
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26°C - 35°C, Gegensturm, bewölkt, später sonnig
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n.V.
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In der Nacht
hat sich die Stelle des Strandes, wo unser Zelt nun mal steht, zum Treffpunkt
von einigen Nachtschwärmern entwickelt. Ganz wohl ist mir dieser Gedanke nicht
gewesen, aber die Faulheit des Schlafes hat mich davon angehalten die Lage
genauer zu sondieren. Erst gegen Morgen war deren Tag vorbei und nur noch
einige leere Bier- und Weinflaschen blieben als Zeugen zurück. Keiner von uns
beiden fand heute den Antrieb als erster Aufzustehen und langsam mit einpacken
zu beginnen. An all den andern Tagen erhöhte so immer einer von uns beiden den
Druck auf den jeweils anderen endlich aufzustehen. Heute war dem nicht so, wozu
auch? Selbst, wenn wir bis Mittag weiterschlafen würden, wären die fünfzig
Kilometer bis Istanbul recht schnell erledigt und man wäre da. Die
Schnellstraße dahin hatte auch wenig Verlockendes zu bieten und so zog sich das
erwachen lange hin. Im Zelt wurde es indes immer enger, da die Wände schlaff
vor sich hin hingen. Nicht nur bei den nachtaktiven Jugendlichen ging es
stürmisch zu, auch das Wetter hat sich dem angepasst und es ist ziemlich windig
geworden, so dass die Heringe des Zeltes im losen Sand nicht länger Halt
fanden.
Die Neugierde
danach, ob die Fahrräder und mit ihnen alles andere noch ist, ließ den Tag dann
auch für uns beginnen. Wir packten gemächlich unser Nachtlager ein und fuhren
los. Auf dem Weg gestern standen am Straßenrand unzählig viele Melonenhändler,
die von den Ladeflächen ihrer Melonenlaster riesige Berge der leckeren Früchte
verkauften, heute fanden wir aber keine mehr. Schade, denn eine frische Melone
zum Frühstück, wäre schon eine tolle Sache. So wir kauften wir unser Frühstück
auf konventionelle Art und Weise in einem Laden und aßen es sogleich an der
Schnellstraße auf Europaletten sitzend mit Blick auf die Klimaanlage des
kleinen Supermarktes.
Der Wind kam
heute aus Osten, blies also vor uns schon den Istanbulern um die Ohren. Beim
Weiterfahren orientierten wir uns einzig an den Schildern die zum Atatürk
Havalimanı, dem größten Flughafen der Stadt hinwiesen. Was wichtig war, da
die einst so eindeutige Schnellstraße im Gewusel der Stadt aufzugehen schien.
Immer wieder teilte sie sich in zwei, drei, vier Bahnen, die auf Brücken führen
oder die Richtung änderten. Kaum vorstellbar dass hier irgendein Mensch tatsächlich
durchsieht. An den Verkehr konnte man sich schon fast gewöhnen. Wichtig ist,
dass man einfach immer Stur seine Linie durchzieht. So ist man auch für die
Autofahrer viel berechenbarer. Sollte man dann durch eine große Einmündung
wieder einmal in der Mitte der sechsspurigen Verkehrsader landen, ist es eher
gefährlich, wenn man sich krampfhaft an den rechten Fahrbahnrand zurück kämpfen
will. Irgendwann wird sich eine Lücke im ständigen Verkehrsstrom auftun und die
krallt man sich dann. Absichtlich wird ein schon kein Mensch über den Haufen
fahren. Man muss selbstbewusst ein Teil dieses Systems werden, man muss sich
integrieren und darf kein Fremdkörper sein, der sich nur zaghaft und unsicher
vorwärts tastet. Die anderen Verkehrsteilnehmer akzeptieren einen unter ihnen.
Auch sollte man das ewig andauernde Rumgehupe einfach ignorieren, es hat ja doch keine Bedeutung und stresst nur
unnötig.
Der Wind
schlägt konstant von vorne an, in Böen hat man an diesem Vormittag sogar
Probleme überhaupt vorwärtszukommen. Irgendwie hat man das Gefühl, als sollte
es einem heute nicht zu leicht gemacht werden. Zudem sind die Hügel des
welligen Profils auch so kurz vor dem Ziel eine zusätzliche und verlässliche
Bremse. Zweimal finden sich zwischen diesen Hügeln Täler die so tief liegen,
dass Seen oder Buchten entstehen. Diese topografisch markanten Stellen bieten
die einzig verlässliche Möglichkeit der Orientierung. Dazwischen ist das
Straßenlabyrinth nur durch konsequentes Folgen des Flughafenzeichens zu lösen.
Wann hier irgendwo die Stadt Istanbul begann, ist nicht zusagen. Ein
Ortseingangsschild oder etwas Vergleichbares gibt es nicht. Vielleicht waren
wir schon seit einer Stunde in der Stadt selber, man weiß es nicht. Kurz vor
dem Flughafen, als man die startenden und landenden Flugzeuge schon groß sah,
änderten wir die Navigationsstrategie, da unser Flughafen ja bald wegfallen
würde. Wie beschlossen uns für am Ziel angekommen zu erklären und fuhren auf
direktestem Wege zum Marmarameer. Was gar nicht so einfach war, da das von den
Stadtplanern nicht vorgesehen war. Ein kleiner Scherz: Ganz sicher plante das
hier kein Mensch, Istanbul in seiner Masse ist einfach so entstanden. Am Meer,
so der Plan, wollten wir einen Zeltplatz suchen und dann nur noch mit einer
Vorortbahn, deren Schienen wir hier sahen, ins Zentrum fahren.
Doch wir
fanden weder einen Bahnhof noch einen Zeltplatz. Stattdessen wurden wir, wie
Asterix und Obelix bei ihrem Versuch den Passierscheins A 38 zu erhalten, hin
und her geschickt. Mal sollten wir die Straße in die eine Richtung fahren, dort
angekommen, sagte man uns der Zeltplatz läge genau in der anderen Richtung und
so ging es immer wieder hin und her. Um nicht wahnsinnig zu werden, den das ist
ja das Ziel bei dieser Aufgabe von Julius Cäsar die er Asterix und Obelix
stellt um zu prüfen, ob sie Götter seien, beenden wir das Spiel. An den Gleisen
der Vorortbahn, die küstennah bis ins Zentrum führt, fahren wir immer weiter in
die Stadt hinein. Wir halten die Augen zwar stets offen, finden aber keinen
Zeltplatz. So erfragen wir nach und nach auch bei Hotels den Preis für
zumindest eine erste Nacht. Dabei verlieren wir uns in dem schier
unbegreiflichen Netz von Straßen sogar für kurze Zeit, eher durch einen Zufall
fahren wir uns wenig später wieder über den Weg. Das wäre ja was geworden, wenn
man sich in diesem Durcheinander wiederfinden will, man weiß ja selbst nicht wo
man ist.
Die Preise pro
Nacht lagen immer ungefähr bei einhundert Euro pro Person und das war dann doch
ein wenig zu dick für uns. Und so fuhren wir immer weiter in die Stadt hinein,
immer mit Blick zum Wasser, damit wir uns nicht radikal verfahren. Teilweise
auf Fußwegen, dann wieder im Verkehr, es ist egal. Irgendwann gibt es zwischen
der Küstenstraße, die im Übrigen nach John F. Kennedy benannt ist und dem
Marmarameer eine Uferpromenade mit kleinen parkähnlichen Grünflächen auf die
wir ausweichen können. Zwar kommen wir nur noch im Fußgängertempo vorwärts,
denn es ist Sonntag und alle die nicht gerade Auto fahren und hupen, spazieren
hier mit ihrer Familie entlang, aber dafür hat man auch mal einen Blick für
alles andere, neben dem Verkehr. Wir fahren an alten Stadtmauern entlang,
Angler fischen an jeder freien Stelle. Auf dem Marmarameer warten unzählig
viele Schiffe – von ganz kleinen Yachten bis zu riesig großen Tankern – auf
ihre Durchfahrt durch den Bosporus. Der Stress lässt nach und es macht richtig
Spaß hier Rad zufahren. Gerne darf diese Promenade noch ein paar Kilometer
weiter gehen.
weiter ging's in Istanbul
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